16-jährig verließ der Nachfahre italienischer Einwanderer seinen Geburtsort um über England ins „Neue Land“ auszuwandern. Er arbeitete zunächst bei seinem Bruder Georg Peter in London, der Holzblasinstrumente und Klaviere herstellte, auch einen Musikalienverlag betrieb. Zu Ende des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zog es ihn (1783/1784) über Baltimore weiter nach New York. Bruder Heinrich hatte es dort als Metzger bereits zu geringem Wohlstand gebracht. Johann Jakob versuchte sein Glück als Musikalienhändler; doch verlegte er sich bald auf den Pelzhandel. Mit all seinen Anstrengungen und wagemutigen Plänen, auch mit einer Menge Fortune gelang es ihm innerhalb weniger Jahre zu einem immensem Vermögen zu gelangen. Um 1800 war er der reichste Mann New Yorks, 1811 gründete er im Westen die Handelsniederlassung Astoria, heute Partnerstadt von Walldorf.
Der florierende Welthandel mit seiner eigenen Handelsflotte und Immobiliengeschäfte vermehrten seine Erträge und sein Vermögen. Man sprach auf der Welt von John Jacob Astor als dem reichsten Mann Amerikas, von „Mr. Manhattan“. Doch das Leben dieses Mannes bestand nicht nur aus Spekulationen. Er stiftete 400.000 Dollar und das entsprechende Grundstück für eine öffentliche Bibliothek, der späteren Astor-Bibliothek, die 1854, im selben Jahr wie das Astorhaus in Walldorf eingeweiht wurde.
Der Dichter und Dollarmillionär
(Von Jürgen Herrman)
Washington Irving (1783-1859), respektvoll als Vater der amerikanischen Literatur bezeichnet, war der erste Klassiker Amerikas.
Zu seinen Freunden zählte, gerade zwanzig Jahre älter, Jakob Astor, der ihn im Jahr 1836 zu seinem Testamentsvollstrecker benannt hat. Der junge Irving, ein gelernter Jurist, war zunächst bis zu seiner ersten Europareise (1804-1806) als Journalist für mehrere New Yorker Zeitungen tätig. Nach frühen Gedichten und satirischen Essays hatte er unter dem Pseudonym Diedrich Knickerbocker seinen ersten schriftstellerischen Erfolg – der Titel: „Eine Geschichte New Yorks, vom Beginn der Welt bis zum Ende der holländischen Dynastie“. Und sein Untertitel, der die Phantasie der Leserschaft beflügeln sollte: „Enthaltend – neben vielen erstaunlichen und seltsamen Dingen – die unaussprechlichen Ratschlüsse Walters des Zweiflers, die unheilvollen Unterfangen Wilhelms des Ungeduldigen und die ritterlichen Taten Peters des Dickköpfigen, der drei holländischen Gouverneure von Neu Amsterdam. Die einzige authentische Geschichte, die jemals veröffentlich wurde und veröffentlich werden wird.“ Scheinbar macht er sich über die Bewohner der Kolonie Neu-Niederland, die Holländer lustig. Doch manche Seitenhiebe auf seine amerikanischen Zeitgenossen in satirischer Form und mit elegantem Humor sind hierin versteckt. Diese burleske Chronik verschaffte ihm ein großes Lesepublikum und auch die Bewunderung des schottischen Schriftstellers Walter Scott, der später auf Irving eine sehr befruchtende Wirkung ausüben sollte. Inspiriert wurde von der satirischen Geschichte auch das Musical „Knickerbocker Holiday“ von Maxwell Anderson, das 1938 mit bekannten Liedern von Kurt Weill wie dem „Washington Irving’s Song“ oder dem „September Song“.Dieser wurde unter anderem von Frank Sinatra interpretiert und findet sich auch im Repertoire unseres Walldorfer Künstlers Klaus Thomé.
Irving trat 1810 mit 27 Jahren als Teilhaber in die Handelsgesellschaft seiner zwei Brüder ein. Die damalige Weltwirtschaftskrise brachte 1818 den Zusammenbruch der Betriebe in New York und im englischen Liverpool. So wurde er durch den Wandel der Dinge schließlich auf einen Weg gebracht auf dem er sein eigentliches Talent entfalten konnte – er wurde Schriftsteller, sein Lebensinhalt wurde die Literatur. Irving war eigentlich ein geborener Schriftsteller, keiner der „Späten“, die oft ein Leben lang bis zum Durchbruch ihres Künstlertums brauchten. Kurz darauf erschien unter dem Pseudonym Geoffrey Crayon sein „The Sketch Book“, das auch ins amerikanische Milieu übertragene deutsche Sagenstoffe enthält. Sein erfolgreichstes Werk wurde kurz nach Erscheinen in Französische und ins Deutsche übersetzt und verlegt. Das Skizzenbuch entstand unter dem Einfluss seines großen Schriftstellerkollegen Sir Walter Scott mit dem er im Sommer 1815 Streifzüge durch das schottische Hochland unternahm. Die wohl virtuoseste Geschichte daraus ist „The Legend of Sleepy Hollow“ (Die Sage von der schläfrigen Schlucht) – nicht zuletzt so bekannt durch die fabelhafte Verfilmung von Tim Burton mit Johnny Depp und Christina Ricci in den Hauptrollen (1999). Bereits 1958 hatte sich Walt Disney des Stoffs um den kopflosen Reiter angenommen und mit „The Legend of Sleepy Hollow“ einen 34-minütigen Zeichentrickfilm produziert. Eine weitere zeichnerische Umsetzung findet sich in der Comic Reihe „Illustrierte Klassiker“ mit der Nr. 99. Hier wurde „Die Sage von der schläfrigen Schlucht“ zusammen mit Irvings „Rip Van Winkle“ als Bildergeschichte veröffentlicht (deutsch bei Hethke Comics, 1999).
Washington Irving war befreundet mit dem bekannten, in London lebenden Maler Leslie und schloss bald wichtige Bekanntschaften wie mit dem damals sehr umstrittenen jungen Turner und auch mit Byron. Im Verlaufe seines siebzehn Jahre dauernden Europaaufenthaltes – die letzten drei Jahre bis ins Jahr 1832 war er Legationsrat an der amerikanischen Gesandtschaft in London – kam er auch nach Frankreich und lebte elf Monate in Paris. In dieser Zeit traf er dort Johann Jakob Astor, dessen kranken Sohn John Jacob Astor II und Tochter Eliza. Seine Reise führte ihn weiter nach Deutschland, wo er nach einer mehrwöchigen Rheuma-Kur in Aachen mit der Postkutsche den Rhein und die Bergstraße entlang im September schließlich nach Heidelberg gelangte. Aus mehreren Briefen an seine Geschwister ist Folgendes zu entnehmen:
„Weit über alles, was ich gehört und gelesen, übertraf der Rhein meine Erwartungen. Wirklich, ich bin völlig entzückt über Deutschland.“
„Mit den Deutschen,“ so ist in einem weiteren Brief zu lesen, bin ich sehr zufrieden; sie sind ein biederes, freundliches, wohlmeinendes Volk, und ich zweifle nicht, wäre ich an einem Platz, wo ich mit ihnen noch näher bekannt werden könnte, ich würde mich unter ihnen sehr wohlfühlen.“
Weiter schreibt er:
„Wir kamen über die sogenannte Bergstraße, eine durch ihre Schönheit berühmte Landschaft. Unser Weg führte am Fuß der Höhen des Odenwaldes entlang, die sich zu unserer Linken erhoben, mit Weinbergen an ihren Hängen, die Gipfel mit Wald bedeckt, und von ihnen herab grüßten hier und da die verfallenen Türme eines alten, durch Lied und Geschichte berühmten Schlosses. Zu unserer Rechten dehnte sich die reiche Ebene, so weit das Auge schauen konnte, mit einer schwachen Linie blauer Hügel, die den Lauf des fernen Rheins bezeichnete. Es wäre vergebliche Mühe, die Schönheit dieser landschaftlichen Bilder beschreiben zu wollen; den dauernden Wechsel romantischer Szenerie, die das Auge entzückt und zugleich die Phantasie anregt, und den glücklichen Überfluß, der das Herz weit macht. Die Fülle feinen Obstes, die ich hier vorfand, erinnert mich an unsere Heimat. Die Wege sind eingesäumt von Obstgärten voller Apfel- und Birnbäume, und die Bäume sind derart beladen, dass man die Äste mit Stangen stützen muß, da sie sonst brechen würden. An verschiedenen Stellen war man mit der Weinlese beschäftigt. Am Nachmittag vernahm man das Schießen der Winzer in den Weinbergen, die sich nach der Arbeit vergnügten, denn die Weinernte ist die Zeit, in der man Arbeit und Fröhlichkeit zu vereinen pflegt.“
… und über die Heidelberger Tage schreibt er am 20. September an seine Schwester:
„Drei Tage bin ich in Heidelberg gewesen und habe schöne Tage verlebt. Es ist ein berühmtes altes Städtchen, am Eingang eines Tals zwischen hohen Bergen gelegen. Der Neckar, ein klarer Fluß, strömt daran vorbei, und zwischen den Bergen geht der Blick hinaus über die weite und reiche Ebene, durch die der Neckar dem Rhein entgegenzieht. Der Horizont wird von einem Bergzug abgeschlossen. Auf einem Hügel unmittelbar über Heidelberg sind die Ruinen eines alten Schlosses, eines der prächtigsten und größten in deutschen Landen. Beim Schloß ist ein offener Park mit schönen, schattigen Spazierwegen, die das alte Schloß umziehen. Von hier oben hat man einen wunderbaren Ausblick auf die Rhein-Ebene und ins Neckartal.“
Wie er weiter mitteilte, lernte er einen englischen Count sowie Grafen aus Schlesien und Sachsen kennen, die im gleichen Hotel wohnten. Irving schrieb weiter, dass es ihm an Zerstreuung und Gesellschaft nicht fehlte: „Da die Gegend reich ist an alten Schlössern, die durch ihre Geschichte und auch durch allerlei Gespenstersagen berühmt sind, und da die Landschaft einen bunten Wechsel an romantischen Winkeln bietet, so wird uns jeder Ausflug zu einem ungewöhnlichen Genuß“.
Washington Irving hatte noch viele Pläne, um „Old Europe“ näher kennen zu lernen. Von Heidelberg aus ging seine weitere Reise über Karlsruhe und Baden-Baden, Straßburg, in den Schwarzwald, dann über München, Salzburg, Wien und nach einem Winteraufenthalt in Dresden, sein „little Florence of Germany“, weiter durch Belgien und schließlich nach Paris.
Auch lebte er in Madrid, wo er im Verlauf von drei Jahren in den alten Bibliotheken die spanische Geschichte näher kennen lernte und durch Reisen ins Landesinnere, vor allem auch durch Andalusien, zum Schreiben von weiteren vier Werken veranlasst wurde:
- Life and Voyages of Christopher Columbus, 1828
- The Conquest of Granada, 1829
- The Companions of Columbus, 1831
- The Alhambra, 1832
1832 hieß es für Irving Abschied nehmen von Europa.
Amerikanische Schriftsteller imitierten deutsche, englische und auch französische Vorbilder.
Edgar Allan Poe hat dies in seinen Essays und Satiren des Öfteren aufs Korn genommen.
Goethe schrieb um 1830 in den „Zahmen Xenien:“„Amerika, du hast es besser“ und sein Rat für die künftigen Literaten der neuenWelt war:
„… und wenn eure Kinder dichten bewahre sie ein gut` Geschick vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.“
Dessen wohlgemeinter Ratschlag stieß jedoch auf taube Ohren, gerade diese Geschichten verlangte das Lesepublikum in Amerika.
In dieser Zeit wurde in den gebildeten Kreisen der Ruf nach einer nationalen Literatur laut, man wollte sich von der anglizistischen lossagen. Ansätze gab es bei Cooper, Hawthorne, Irving und Bryant. Mit Edgar Allan Poe (1809-1849) gehörte Irving zu der Generation von Autoren, die den Beginn einer neuen literarischen Epoche in Amerika einleiteten.
Inzwischen fünfzigjährig unternahm Irving ausgedehnte Reisen in den wilden Südwesten Amerikas. Es entstand sein Wanderbuch Reise durch die Prärien.“
Washington Irving lernte Johann Jakob Astor kennen, der ihn in seiner Gönnerschaft bei der Herausgabe der „Abenteuer des Captain Bonneville“ finanziell unterstützte. 1834 beauftragte ihn Astor, einen Bericht über die Expedition zu Lande und zu Wasser, über das missglückte Unternehmen der Gründung einer Handelsniederlassung am Pazifik, an der Mündung des Columbia River zu verfassen. Aus dem gewaltigen Stoß von Akten, Urkunden und Geschäftspapieren, die er zusammen mit seinem Neffen durchgearbeitet hat, schuf Irving eine äußerst spannende Lektüre, die außer den beschriebenen Naturbildern die Eroberung des amerikanischen Kontinents dem Leser anschaulich nahe bringt. Unter dem Titel „Astoria, or anecdotes of en enterprise beyond the Rocky Mountains“ wurde das Buch in eleganter Aufmachung im Oktober 1836 herausgegeben. Die Publikation von „Astoria“ vertiefte die Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Persönlichkeiten noch mehr. Aus der Feder Edgar Allan Poes stammt eine gründliche Rezension, die im Januar 1837 in der Zeitung „Messenger“ erschien, und er schrieb über Irving bzw. „Astoria,“ dass die Arbeit auf wahrhaft meisterliche Weise zustande gebracht worden sei.
Es gab viele gegenseitige Besuche und Einladungen, sei es bei Irving auf dessen idyllischem Landsitz mit dem bildhaften Namen „Sunnyside“ im Tal des Hudson oder in Astors Residenz in New York.
1839, drei Jahre nach Erstellung seines ersten Testaments, verfügte Astor in einer dritten Ergänzung das großzügige 400.000-Dollar-Vermächtnis zugunsten der Stadt New York zur Gründung einer für jedermann öffentlichen Bibliothek „zur Förderung nützlichen Wissens“, der späteren Astor-Bibliothek. Er stiftete zudem noch das Baugrundstück zwischen Lafayette-Platz und Broadway, südlich des Astor-Platzes im Zentrum New Yorks gelegen.
Am Tag der feierlichen Eröffnung, dem 1. Februar 1854, standen bereits 80.000 Bände – man spricht von seiner Privatbibliothek – der Öffentlichkeit zur Verfügung. Diese Institution war Astors größte wohltätige Stiftung und zeigte einmal mehr, dass er nicht nur „der bloße Ansammler von Dollars“ war, sondern auch seit Jahren großes Interesse an den schönen Künsten und der Literatur hatte, wie es der Schriftsteller Cogswell damals feststellte.
Knapp sechs Monate später, am 9. Juli 1854, wurde die andere große Stiftung Astors, das Astorhaus in Walldorf, mit großen Feierlichkeiten eingeweiht.
Friedrich Kapp, ein Astor-Biograph, schrieb 1868 in seiner „Geschichte der Deutschen Einwanderung in Amerika:“
… New York gab zu Anfang des 18. Jahrhunderts den armen Pfälzern, was sie für ihre leiblichen Bedürfnisse brauchten. Astor, ursprünglich auch ein armer Pfälzer, dankte dem Lande für die seinen armen Landsleuten erwiesenen Wohltaten durch eine Schenkung. Welche die höchsten Blüthen des menschlichen Geistes in ihren stolzen Hallen vereinigt und welche einen der freiesten und liebenswürdigsten amerikanischen Schriftsteller, Washington Irving, als ersten Präsidenten an ihrer Spitze hatte.“ Astor hatte Washington Irving testamentarisch als ersten Präsidenten der Bibliothek festgelegt.
So stehen sich heute in dieser Bibliothek zwei Marmorbüsten von Männern mit total unterschiedlichen Charakteren gegenüber. Diejenige des Gründers Johann Jakob Astor und jene seines Freundes Washington Irving, des ersten Präsidenten der Bibliothek.
Jürgen Herrman