Das Astorhaus, beziehungsweise das Gebäude der Astor-Stiftung, wurde im Jahr 1854 feierlich eingeweiht. Johann Jakob Astor, der berühmte Sohn Walldorfs, erwirtschaftete in den Vereinigten Staaten von Amerika ein riesiges Vermögen. Er verfügte testamentarisch mit einer 50.000-Dollar-Spende die Gründung einer Stiftung beziehungsweise den Bau eines Armen- und Waisenhauses in seinem Heimatdorf.
Astors Testament
Das große historische Datum war der 3. März 1841, als Johann Jakob Astor etwa drei Jahre vor seinem Tod zum fünften Mal sein Testament aktualisierte und dort unter Punkt sechs die großzügige Stiftung für sein Heimatdorf fixierte:
I direct my executors to apply fifty thousend dollars to the use of the poor of Waldorf, near Heidelberg, in the Grand Duchy of Baden, by the establishment of some provision for the sick or disabled, or the education and improvement of the young, who may be in a condition to need the aid of such fund; requesting my executors to consult on this subject my esteemed friend, Mr. Vincent Rumpff, and to procure the appointment or establishment of such trust or legal body, from the authorities and government of the place, as may be requisite or deemed useful by my executors.
Das Vermächtnis für seine Heimat diente im Wesentlichen der Fürsorge und Wohlfahrtspflege und auch der Bildung. Wie schon viele vor und nach ihm hat er einen Teil seines Reichtums wieder für gemeinnützige Stiftungen ausgegeben. In seiner letztwilligen Verfügung hat er auch die Gründung einer öffentlichen Bibliothek in New York im Jahr 1854 – der Astor-Library – mit 400.000 Dollar veranlasst. Man könnte meinen, dass Astor zeigen wollte, dass Geld auch anders als nur gewinnbringend angelegt werden kann.
Auch im heutigen Deutschland entstehen immer mehr Stiftungen von Unternehmen und Privatpersonen. Die staatlichen Organe wissen dies zu schätzen, werden doch Vermögenswerte zum Wohl des Gemeinwesens eingesetzt und auf freiwilliger Basis umverteilt.
Die Testamentsvollstrecker von Johann Jakob Astor fassten im § 2 des Statuts für die Astorstiftung am 11. Juli 1850 den Beschluss:
Ertrag des Stiftungsvermögens soll nach dem Willen des Erblassers lediglich zu folgenden beiden Zwecken angewendet werden:
- Versorgung alter, gebrechlicher oder aus irgendeiner Ursache nicht arbeitsfähiger Armer.
- Erziehung und Hebung [im englischen Original: improvement] junger Armer.
Durch diese Bestimmung ist jedoch nicht verboten, einen Überschuss des Ertrags über das Bedürfnis in einzelnen Jahren zur Vergrößerung des Stammvermögens zurückzulegen.
Über zwei Jahre später, im November 1852 schmückten die Arbeiter das Dach des Astorhauses mit einem gebänderten Baum, der 27-jährige Zimmerpolier Karl Laier aus Dielheim trug den von Dekan Brettle gedichteten Richtspruch vor. Er erhielt für Baum und Vortrag drei Gulden und sechsunddreißig Kreuzer. Zwei Zeilen der 25 Strophen lauten:
Hoch lebe, der mit wahrer Meisterhand den Plan zu diesem schönen Bau erfand …
Architektur
Planer des Hauses, weit außerhalb des Ortsetters im Osten gelegen, war der Weinbrenner-Schüler Bezirksbaumeister Ludwig Lendorff aus Heidelberg. Er erarbeitete auch die Pläne für die evangelische Kirche in Meckesheim, der Synagoge in Mannheim und des Heidelberger Stadttheaters. Das repräsentative, zweigeschossige Gebäude wendet seine nahezu 64 Meter lange Schauseite auf den damaligen Mainzerweg, der alten Landstraße nach Nußloch.
Man sieht die zunehmende Bedeutung des Historismus. Vorsichtige Wiederaufnahme von Stilformen der Gotik kann man hauptsächlich am Türmchen und an der noch im Originalzustand sich befindlichen Haupteingangstür mit ihren Maßwerkmotiven erkennen. Wenige originale handwerkliche Details aus der Entstehungszeit des Hauses wie das Kastenschloss mit dem Schlüssel sind erhalten. Zu erwähnen ist noch eine gusseiserne Stütze mit verzierten Auflagen, die im ehemaligen Speisesaal ihre statischen Dienste bezweckt. Weitere Details, wie Türen, Treppengeländer, Wandvertäfelungen sind nicht zu nennen. Im Ostflügel des Obergeschosses im heutigen Museumstrakt ist der Knabenschlafsaal nach den vor Jahren durchgeführten Umbaumaßnahmen wieder im Originalzustand zu erkennen. Die großzügig bemessene Durchfensterung sorgte für gutes Licht in den Schul- und Arbeitsräumen. Das Erd- und Obergeschoss war in 30 verschiedene Räume aufgeteilt, wobei Knaben- und Mädchenschlafsaal sowie der Betsaal die größten Räumlichkeiten ausmachten. Im Keller gab es sechs Parzellen für Vorräte, ein Bügelzimmer, eine Werkstube und zwei Waschräume.
Einweihung
Am 9. Juli 1854 war es so weit: Das Astorhaus war fertig gestellt. Das Protokollbuch der Astorstiftung berichtet über den Tag der Einweihung, dass sich ein Festzug mit vielen örtlichen aber auch auswärtigen Honoratioren unter Glockengeläute vom damaligen Rathaus auf dem Gickelsberg im Oberdorf durch die Hauptstraße bis zum Astorhaus bewegte und ab 16 Uhr feierliche Reden gehalten wurden.
Die große soziale Einrichtung der Astorstiftung konnte nun ihre eigentliche Arbeit aufnehmen. 30 Pfleglinge wurden anfangs unter Leitung des Verwalters Schulitz betreut. Bis zur Aufhebung der Stiftung unter dem NS-Regime im Jahre 1936 wurden über 550 Zöglinge und 19 Pfründner registriert.
Ab 1937 wurde das Haus als Lager für den weiblichen „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) zweckentfremdet. Zwischen 40 und 60 junge Frauen waren bis 1945 als „Arbeitsmaiden“ jeweils für ein halbes Jahr im Astorhaus einquartiert. Sie waren hauptsächlich in der Land- und Forstwirtschaft in Walldorf, Wiesloch, Nußloch und Reilingen, aber auch als Famlienhelferinnen tätig. Ab 1942 mussten die Frauen auch in Lazaretten oder als Flakhelferinnen arbeiten.
Nachkriegszeit
Nach dem Ende des NS-Regimes 1945 wurde das Haus zunehmend Unterkunft für Flüchtlinge und sozial schwächere Bürger und wurde dabei im Laufe der Zeit unübersehbar zernutzt und nicht mehr bewohnbar. Viele Nutzungskonzepte wurden durchdiskutiert, und es herrschte wegen der Geldknappheit jahrelange Ungewissheit über die künftige Nutzung. Die wohnliche Nutzung des Hauses wurde aufgegeben. Das Astorhaus mit dem dazugehörigen Gelände wurde an die Stadt Walldorf veräußert. Mit dem Erlös erstellte die Astorstiftung ein Alten- und Pflegezentrum, das Anfang 1999 seinen Betrieb aufnahm. Eine weitere Sternstunde für die Astorstiftung stellen die Ende der 1990er Jahre fertig gestellten Seniorenwohnungen der Dietmar-Hopp-Stiftung dar.
Heute
Heute sind im Astorhaus der Schülerhort, das Trauzimmer der Stadt Walldorf sowie die umfangreiche heimatkundliche Sammlung der Vereinigung Walldorfer Heimatfreunde untergebracht. Nach wie vor stellt das Astorhaus mit seiner umfangreichen, 1983 neu gestalteten Parkanlage eine der attraktivsten Sehenswürdigkeiten Walldorfs dar.
Jürgen Herrmann